Bonus-Kapitel All die Tage ohne dich

Liebe Lesende 
Manchmal verändern sich im Voraus durchdachte Geschichten, während sie geschrieben werden. Genau so war es bei »All die Tage ohne dich«. Zuerst war ich sicher, dass Anni und Daniele eine zweite Chance bekommen würden. Na ja, du hast das Buch gelesen … Und im Ernst, wie hätte ich Max eine Abfuhr erteilen können? 🙂
Entsprechend gibt es einige Seiten, die aus dem Skript fliegen mussten. Anni und Daniele haben eine Vorgeschichte, die im Buch keinen Raum mehr fand. Wenn du dich beim Lesen hin und wieder gefragt hast, warum Anni so dermaßen an Daniele hängt, habe ich mit nachfolgendem Kapitel vielleicht die Antwort für dich.
Ich wünsche dir viel Freude damit.
Danke, dass du meine Bücher liest.
Deine Emily
Anni & Daniele
 
Frühling 2015
 
Mit zitternden Beinen hangele ich mich zum letzten Steig.
»Anni, du hast es gleich geschafft!« 
Ich sehe zu Daniele hinauf, nur noch wenige Zentimeter trennen uns voneinander. Ich mobilisiere meine letzten Reserven und konzentriere mich. Endlich sitzt der rechte Fuß fest im Steig.
»Die linke Hand noch ein bisschen weiter hoch«, weist er mir die Richtung. Also strecke ich meinen Arm, bis jeder Muskel an Schulter und Rücken schmerzhaft zieht, atme tief ein und hieve mich schließlich hoch. Oben angekommen belohnt mich eine frische Brise an diesem viel zu warmen Aprilmorgen unseres letzten Kurzurlaubstages in den Bergen. 
Daniele strahlt und nimmt mich in den Arm. »Das war super!« Während wir auf der Wiese liegen, beruhigt sich mein Puls, und neben dem Mann, den ich von ganzem Herzen liebe, ist die Anstrengung der Klettertour vergessen. 
»Hast du eigentlich über meine Idee nachgedacht?«, unterbricht Daniele den stillen Moment.
»Welche Idee?«, frage ich und weiß doch, wovon er spricht. Ich nestele an seinem Shirt. 
»Du weißt schon. Die Kletterschule in Sardinien.«
Ich antworte nicht sofort auf seine Frage.
»Worüber denkst du nach?«, will er wissen.
Seufzend setze ich mich auf und zupfe einige Grashalme aus der Wiese. »Ich weiß nicht. Zum einen klettere ich noch nicht so lange. Und dann … Ich meine, ich würde überallhin mit dir gehen, aber findest du es schlimm, wenn ich zumindest mal sehen will, wo ich leben werde?«
Daniele legt den Kopf schief und greift nach meiner Hand. »Du hast recht, womöglich bin ich zu voreilig. Ich bin mir einfach nur jetzt schon so sicher, dass du es lieben wirst. Die Insel ist meine Heimat, und ich kann dir versprechen, dass sie dich mit offenen Armen empfangen wird. Und dass du anfangs noch keinen Unterricht geben wirst, versteht sich von selbst.«
Ich bin immer noch skeptisch und sicher sieht er mir das an. 
»Lass uns vereinbaren, dass du dir das ganz in Ruhe überlegst. Im Sommer zeige ich dir die Insel, du wirst viele Leute kennenlernen. Aber wir entscheiden das zusammen, wenn wir zurück sind.« 
»Und wenn ich mich mit dem Gedanken am Ende so gar nicht anfreunden kann?«
Während er grinst, tritt sein Grübchen hervor, und bin mir ganz sicher, dass jetzt wieder irgendwas Albernes kommt.
»Dann eröffnen wir einen Friseursalon für Kängurus in Australien.«
Ich rolle die Augen und boxe ihn leicht in die Seite, kann mir ein Schmunzeln dennoch nicht verkneifen. Er zieht mich zu sich und wir blicken über die Berge in die Ferne. 
»Alles ist gut, solange wir zusammen sind, Anni.«
Er hat recht und doch lässt mich eine Sorge nicht los. »Ich glaube, am schlimmsten wird es, meiner Mutter das alles beizubringen. Sollten wir Bremen hinter uns lassen, dann hat sie niemanden mehr.« 
»Deine Mutter hat dich nicht verloren, wenn du weg bist. Und sie ist schon jetzt nicht allein. Sie hat Freundinnen.«
»Das ist etwas anderes.«
»Anni, du bist nicht verantwortlich für ihr Leben. Es ist nicht deine Schuld, dass dein Vater euch verlassen hat. Jeder sollte das Recht auf einen Neubeginn haben.«
Im Grunde bin ich mir bewusst, dass seine Worte wahr sind. Und vielleicht brauchen Mama und ich gerade die Entfernung, um uns wieder näherzukommen, so komisch das auch klingt. Daniele nimmt mich fester in den Arm und ich schließe die Augen, während mein Kopf auf seiner Schulter ruht. Alles ist gut, wenn wir zusammen sind, wiederhole ich seine Worte in Gedanken.
 
 
 
Sardinien, September 2015
 
Unsere Welt. In diesem Moment bin ich mir sicher: Dort, wo er ist, will auch ich sein. Nie war das Wort Zuhause klarer. Tief atme ich in jede Zelle Sardinien ein. Der Tag neigt sich dem Ende zu und malt den Himmel in warme Rot- und Gelbtöne. Von Kopf bis Fuß durchfährt mich eine wohlige Wärme. Rauscht wie die Brandung vor mir durch meinen Körper. Alles ist perfekt. Ich seufze leise und blicke auf das Meer. Das glitzernde türkise Wasser erzählt mit jeder rollenden Welle, die meine Füße umspült, geheime Geschichten.
Ich breite die Arme aus und genieße das Kribbeln der Gewissheit, das sich in meinem Bauch bemerkbar macht. Hier sind wir frei, hier ist das Leben.
»Lass mich raten? Du bist die Königin der Welt?«
Die Sonne bedeckt mit ihrer warmen Decke meine Haut, auf der sich dennoch feine Härchen aufstellen. Daniele steht hinter mir und umgreift meine Taille. Ich neige den Kopf zur Seite, schließe die Augen und spüre Danieles Lippen, noch bevor sie meinen Hals berühren. Wankend grabe ich die Zehen fest in den Sand, um Halt zu finden, während ich mich zu ihm drehe. Unsere Lippen begegnen sich im vertrauten Spiel, das dennoch aufregend ist, als wäre es der erste Kuss. 
»Es ist völlig genug, wenn ich die Königin deiner Welt sein dürfte.« 
Daniele hebt mein Kinn etwas an und unsere Blicke verweben sich. Das gleiche Blau des Meeres. »Du bist es schon, Anni.« Er beugt seinen Kopf zu mir herab, woraufhin ihm sein leicht gelocktes dunkles Haar ins Gesicht fällt.
»Sardinien ist perfekt. Wir sind perfekt hier«, gestehe ich. Erneut zieht er mich fest an sich und ich atme tief ein. Lege meinen Kopf an seine Brust und lausche dem Klopfen seines Herzens. Jeder Schlag gilt mir, und die Sicherheit dessen lässt mich fliegen. 
Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen wir uns voneinander. Von einem Kuss, der ein Versprechen gab. Die Zusage, dass es immer so sein wird. Daniele tritt einen Schritt zurück und sieht mich verschmitzt an. Er hält beide Hände hinter seinem Rücken versteckt. 
»Rechts oder links?«
Ich grinse, worauf er mir auffordernd zunickt. »Links?«, rate ich. 
Verschwörerisch streckt er den genannten Arm aus, die Hand zur Faust geballt, dreht sie herum und öffnet sie langsam. »Tut mir leid. Leider nicht«, sagt er und hebt die Schultern. Seine Augen werden vom Licht der Sonne erhellt und funkeln mich an. 
Ich gehe einen großen Schritt auf ihn zu, schlängele mich an seiner Linken vorbei und greife nach der Hand, die er noch immer hinter dem Rücken hält.
»Ne, ne. So läuft das nicht. Deine Wahl war falsch. Also …«
»Das ist nicht fair«, entgegne ich lachend und strauchle. Doch bevor ich falle, umgreift er mich und wir gleiten gemeinsam in die Düne. Grinsend liegen wir nebeneinander. Mit klopfendem Herzen bade ich in der Hitze, die er in mir entfacht, während unsere Finger sich suchen und ineinander verhaken.
Die Leidenschaft steht in seinen Augen, als er seinen Kopf zu mir neigt. Wir lassen einander hineinsehen in die Tiefen unserer Seelen, die ein Band weben, das uns für immer vereint. Wir verschmelzen miteinander und werden eins.
Eine Unendlichkeit später, ohne Gefühl für Raum und Zeit, liegen wir glücklich und erschöpft nebeneinander im Sand. Ich schmiege mich noch ein wenig näher an Daniele.
Während wir im gleichen Rhythmus atmen, hebe ich meinen Kopf von seiner Schulter und sehe ihn an. Womit habe ich so ein Glück verdient? Er lächelt warm und feine Fältchen treten unter seinen Augen auf. Ich liebe jedes einzelne, so wie das Lächeln, dem ich mich nicht entziehen kann.
»Und was ist es jetzt, was du in deiner Hand hattest?«
Daniele grinst. »Du hast es nicht vergessen.« Er greift nach seiner kurzen Hose.
»Du hattest also gar nichts in deiner Hand?«
Er zwinkert mich an. »Ich fand diese hier besonders schön«, erklärt er und wir setzen uns auf. In der Hand hält er eine Muschel, die ich in dieser Größe am Strand noch nicht gesehen habe. Eine weitere kleinere Muschelschnecke liegt daneben.
»Die sind wirklich sehr hübsch. Hast du sie vorhin gefunden?«
Er nickt und zeigt auf die etwas größere der beiden. Mit ihrer gleichmäßig gefächerten Form sieht sie fast schon künstlich aus. »Diese hier ist die Kleine Pilgermuschel. Sie legt große Entfernungen zurück, ehe sie irgendwann an dem Ort strandet, der für sie bestimmt ist. Sie ist außerdem die einzige Muschel, die sich aus eigener Kraft fortbewegen kann.«
Erstaunt sehe ich Daniele an. »Das klingt schön.«
Er nickt. »Und diese hier«, erklärt er weiter, »hält die Erinnerungen an das Meer in sich verborgen.«
Nun kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen. »Erinnerungen?«
Daniele kommt nah an mich heran und hält die Schnecke an mein Ohr. Schon als Kind habe ich mit Hilfe der Muscheln den Erzählungen des Meeres gelauscht. Diese wirkt dafür allerdings doch sehr klein. Erstaunt stelle ich fest, dass es dennoch funktioniert. 
»Hörst du es? Sie erzählt dir ihre Geschichte, die Erinnerung an ihr Zuhause. Und diese Erinnerung wird für immer für dich hier drin gespeichert sein. Sie vergisst nicht.«